Samstag, 21. März 2009

Künstlergeheimnis


"Müssen wir es uns nicht eingestehn, wir Künstler, daß es eine unheimliche Verschiedenheit in uns gibt, daß unser Geschmack und andrerseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich stehn? Man kann, wie eine fast peinlich-regelmäßige Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne daß letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn – und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine »Mutter« von Mensch, im großen Sinne des Wortes, ein solcher, der von nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiß und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr willens ist, seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergißt, nämlich stehn, liegen oder fallen läßt – vielleicht bringt ein solcher endlich Werke hervor, denen er mit seinem Urteile längst nicht mehr gewachsen ist: so daß er über sie und sich Dummheiten sagt – sagt und denkt. Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale Verhältnis – niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern – und es gilt sogar, um ein ungeheures Beispiel zu nehmen, in bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie hat niemals »gewußt«, was sie getan hat..."
Friedrich Nietzsche