Dienstag, 2. Juni 2009

Zeitenwende


"Die Zeitenwende fing 1964 an, und zwar mit dem Frankfurter Auschwitzprozess. Ich habe als Kind meine Landsleute erlebt, wie sie bis zum Kriegsende vom Endsieg faselten und schon am nächsten Tag behaupteten, sie hätten von nichts gewusst. Die Täter verwandelten sich von einem Tag auf den anderen in Opfer. Noch lange nach dem Krieg hat man so geguckt, ob da nicht ein SS-Strolch auf einen zukommt. Ich habe immer mein eigenes Volk sortieren müssen. 1954, als sie in Bern Fußballweltmeister wurden, habe ich in Frankfurt gehört, wie nach der Deutschlandhymne wie früher das Horst-Wessel-Lied gebrüllt wurde. Das Gebrüll des Dritten Reichs konnten Sie in den Wochenschauen hören, und im Rundfunk wurde noch immer gebellt. Wenn einer mal Gitarre spielte, kam sofort der Polizeiknüppel. Das waren die Schwabinger Krawalle. Sie machten sich doch damals praktisch schon strafbar, wenn Sie Geschlechtsverkehr hatten, ohne verheiratet zu sein. Wenn Hildegard Knef eine halbe Brust heraushängen ließ, wurde die Aktion Saubere Leinwand aktiv. Mit Ohnesorg hatte das überhaupt nichts zu tun. Ein autoritärer Charakter wie der Kurras passte da hervorragend rein. Dieser schießwütige Mann, von dem es jetzt heißt, wenn wir nur gewusst hätten, dass der IM ist, dann wäre er bestimmt verknackt worden. Das will ich gerne glauben, aber warum erst jetzt und nicht 1967? Damals steckte die Polizei mit der Justiz unter einer Decke, um genau das zu verhindern. Kurras wurde mit Unterstützung der Kollegen und unter dem Beifall der Springer-Presse und der Berliner Bevölkerung freigesprochen. Woraus man lernen kann, dass die Berliner Polizei bis lange nach ’68 Polizisten gedeckt hat."
Klaus Wagenbach in der SZ (30. 05. 09)