Sonntag, 2. August 2009

Schauspielerinnenkarriere


Die Siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland. Man sah Handwerker zu Fabrikbesitzern aufsteigen und die Börsenspekulanten Millionäre werden. Auch Kleinbürger und Bauern begannen zu begreifen, dass sich Geld vermehrt, wenn man es gut anlegt. In dieser Zeit kam die arbeitslose Schauspielerin Adele Spitzeder nach München. Verschiedene Versuche, sich Geld zu leihen, schlugen fehl. Zufällig hörte sie in einer Bank, wie sich ein Schreinermeister darüber beklagte, dass er 6 % Zinsen für ein Darlehen zahlen müsste, seine Einlage nun aber mit ledigliglich 3 % verzinst würde. Frau Spitzeder sprach den Mann an, und bot ihm 8 % Zinsen an, falls er ihr kurzfristig sein Geld überließe. Offenbar strahlte die Frau Vertrauenswürdigkeit aus. Der Schreinermeister ließ sich nicht nur darauf ein, sondern erzählte weiter, dass es da eine Frau gäbe, die 8 % Zinsen zahle. In dem Pensionszimmer, in dem Frau Spitzeder abgestiegen war, gingen die Anleger bald ein und aus. Aus dem ständig wachsenden Kapital bezahlte die Schauspielerin pünktlich Kredite und Zinserträge zurück. Das sprach sich herum. In kurzer Zeit strömte halb München zu ihr. Ihre derbe Sprache machte Adele volkstümlich, an ihrer Rechtschaffenheit zweifelte niemand. Sie gerierte sich als Wohltäterin, unterstützte in Not geratene Familien und stiftete eine Suppenküche für die Armen. Die Münchner Polizeibehörde durchschaute ihr Schneeballsystem bald, aber es gelang ihr lange nicht, Beweise für einen Betrug zu finden. Private Kläger gab es keine, denn niemand fühlte sich geschädigt. Erst eine Intrige führte dazu, dass man sie wegen Untreue verhaften konnte. Jetzt brach das Kartenhaus zusammen. Tausende ihrer Kunden verloren ihr Geld. Doch die Spitzeder war so beliebt, dass die meisten alle Schuld den Behörden gaben. Das Gericht ließ sich von der allgemeinen Stimmung beeinflussen und verhängte nur eine milde Strafe. Nach drei Jahren Haft war Adele Spitzeder wieder auf freiem Fuß. Fortan reiste sie, endlich berühmt, von Theater zu Theater und erzählte einem faszinierten Publikum von ihrem wohltätigen Wirken als Privatbankbetreiberin.