Freitag, 25. September 2009

Überhang



Einige Stücke Bonner Republik hängen ärgerlicherweise noch über in das gewandelte Deutschland. Dazu gehört unser Wahlsystem. Nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit hat der Verfassungskonvent 1948 lange darum gerungen. Nie wieder sollten Populismus und Parteizersplitterung eine deutsche Demokratie ruinieren. Das reine Mehrheitswahlrecht der Engländer und US-Amerikaner wollte man allerdings auch nicht übernehmen. Es garantiert zwar klare Sieger, lässt aber die Verlierer unverhältnismäßig schlecht aussehen. Ein reines Verhältniswahlrecht führt andererseits zu jener Zersplitterung, die den Untergang der Weimarer Republik erst möglich gemacht hat. Man fand einen Kompromiss: Jeder Bürger erhält zwei Stimmen. Mit der ersten wählt er den Abgeordneten seines Bezirks direkt nach dem Mehrheitswahlrecht, und nur der mit den meisten Stimmen kommt ins Parlament. Mit der zweiten Stimme wählt er seine Partei, wobei jede Stimme zählt. Das funktionierte 60 Jahre hervorragend, auch wenn im Endergebnis das Verhältnis der Abstimmung leicht verfälscht wurde durch einige direkt gewählte Abgeordnete, die man nicht deswegen ausschließen konnte, weil ihre Partei nicht so gut abgeschnitten hatte. Diese "Überhangmandate" werden neuerdings als "ergaunerte Mehrheiten" diskriminiert, die eine Parlamentsmehrheit "illegitim" machten. Die Verfassungsgeber, durchwegs ehrenwerte Männer und Frauen, dürften sich im Grabe drehen. Genau diese Diskrepanz zum reinen Verhältniswahlrecht hatten sie ja gewollt. Doch wir leben inzwischen in einem Staat, der mit seinem Grundgesetz nicht mehr zufrieden ist. Nach und nach werden Rechts- und Persönlichkeitsschutzgarantien aufgeweicht oder ganz abgeschafft. Warum nicht auch das alte Wahlrecht? Ist doch nur ärgerlich.